Freitag, 23. November 2007

weil die zeit schön war


“Der Europäische Rat ist das Versuchslabor, in dem Experimente Europäischer Zusammenarbeit geführt werden, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er zu einer organischen Institution der Europäischen Einheit geworden ist.“

Robert Schuman im Europäischen Rat 1951

Sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges steckte eine europäische Einigung noch weitgehend in den Kinderschuhen. Die „Gründerväter“ Europas, unter ihnen Jean Monnet und Robert Schuman, trieben das „Experiment Europa“ innerhalb des Versuchslabors Europäischer Rat maßgeblich voran. Eine europäische Union lag zwar noch fern, schien aber, in Anbetracht des Kalten Krieges, erstrebenswert.

Seitdem haben sich vor allem die Maximen Europas bzw. einer europäischen Vereinigung modifiziert. Neue Ziele waren beispielsweise ein großer, gemeinsamer Markt, ein außenpolitischer Gegenpol zu den USA, und die politische Vertretung der Interessen der EU-Bürger – alles in allem ein Zusammenwachsen Europas.

Letztere wurde beziehungsweise wird durch das Europäische Parlament gewährleistet. Doch trotz dieser offensichtlich demokratischen Komponente verbleiben Probleme. Als in den Zeiten der EWG kein europäisches Parlament geschaffen werden konnte, übernahm der europäische Rat die Aufgabe der Interessenvertretung des Volkes. Dieser sollte, wie auch Robert Schuman betont, die europäische Einigung vorantreiben und möglicherweise durch ein vom europäischen Volk gewähltes Parlament ersetzt werden. Doch obgleich heutzutage ein EP existiert, das von allen EU-Bürgern bestimmte Volksvertreter beherbergt, hat das Parlament weiterhin kein Initiativrecht beim Gesetzgebungsprozess.

Es besteht demnach ein starker Kontrast zwischen den Erwartungen der „Gründerväter“ der EU und jenen derer, die sich heute vor die Aufgabe einer europäischen Einigung gestellt sehen, welche sich in Anbetracht des Scheiterns der EU-Verfassung als schwieriger herausstellt als anfangs erwartet, obgleich das bestehende Demokratiedefizit mithilfe der Verfassung eingedämmt respektive beseitigt werden sollte. Weitere Institutionen veranschaulichen dieses Defizit: So setzt sich die exekutive Gewalt der EU, die europäische Kommission, aus national bestimmten Kommissaren zusammen, deren Eigeninteressen in den verschiedenen Zuständigkeitsbereichen leicht zu einer Interessendivergenz zwischen EU und Staaten führen können. Die Verfassung sah als Lösung dieses Problems ein Rotationsprinzip der Kommissare vor. Die Kommission verfügt außerdem über das alleinige Initiativrecht beim Gesetzgebungsprozess, der nebenbei nur einer von dreien in der EU ist. Den Bürger führt diese legislative Intransparenz in die politische Verdrossenheit, von Kritikern wird daher gefordert, die Entscheidungsprozesse demokratisch zu legitimieren, mit dem Ziel einer weniger schwerfälligen und somit handlungsfähigeren EU.

Wie aber kann die Gesetzgebung legitimiert werden? Wohl am ehesten durch eine Kompetenzumverteilung zu Gunsten des EP, wie in der Verfassung vorgesehen, des einzigen Organs in den Schranken der EU, das die etwa 400 Millionen Bürger veritabel vertritt und momentan nahezu kein Mitbestimmungsrecht hat. Das Europäische Parlament wird alle 5 Jahre gewählt, bei der letzten Wahl von knapp 40 % der europäischen Bevölkerung.

Die EU-Verfassung sollte an einigen dieser Probleme ansetzen, sie beseitigen: so sollten die Kompetenzen des EP erhöht, der Gesetzgebungsprozess durch Mehrheits- anstatt von einstimmigen Entscheidungen vereinfacht, dem vereinten Europa eine Verfassung gegeben und eine handlungsfähige EU aufgebaut werden.

Die Verfassung scheiterte in mehrerlei Hinsicht: Nicht nur die Tatsache, dass sie in zwei Staaten angelehnt wurde, in denen ein Volksentscheid zum Thema stattfand, sondern auch die beängstigend geringe Wahlbeteilung in diesen und anderen Ländern legten dem europäischen Einigungsprozess einen Stein in den Weg.

Es verbleibt demnach die Frage nach dem Grund für das Scheitern der Verfassung. Dieser ist wohl kaum in den strukturellen Veränderungen der Union zu suchen. Schließlich sollte das „Demokratiedefizit von oben“ mit der Verfassung beseitigt werden. Das verbleibende Problem ist das „Demokratiedefizit von unten“.

So könne nach Dieter Grimm das Europäische Parlament keine Volksvertretung sein, ohne dass ein europäisches Staatsvolk und ein europäischer Diskurs existieren. Das europäische Demokratiedefizit ist transzendent, könne somit durch institutionelle Reformen, in diesem Falle durch eine Verfassung nicht prinzipiell behoben werden.

Dazu bedarf es tiefer greifender Anstrengungen. Eine aktuelle Umfrage in Berlin zeigt exemplarisch das Interesse der deutschen Bevölkerung: Während unter Schülern eines Gymnasiums die Anteilnahme an europäischer Politik dominiert, zeigt sich bei Besuchern eines gewöhnlichen Einkaufszentrums klares Desinteresse. Politische Motivation setzt also eine gewisse politische Bildung voraus, welche nicht in allen Teilen der Bevölkerung vorhanden ist. Nicht wenige Deutsche haben Wissenslücken bezüglich der nationalen Politik, bei umso mehr Menschen fehlt eine europäische politische Bildung. Des Weiteren wurde nur in wenigen Mitgliedsstaaten eine Volksbefragung durchgeführt, die Masse der EU-Bürger ist also vermutlich noch überhaupt nicht mit den Inhalten der Verfassung vertraut, da sie sich nicht mit ihr befassen musste. Auch vor den teils parlamentarischen Wahlen zur EU-Verfassung wurde kein öffentliches Interesse geregt, die Wichtigkeit eines konstitutionellen Europas nicht betont, seine Inhalte nicht klar genug dargelegt.

Es liegt auf der Hand, dass eine europäische Einigung, welcher Art auch immer, nicht ohne eine politisch motivierte und engagierte Gesellschaft durchgesetzt werden kann. Jedoch wird sich diese Gesellschaft nicht von allein europäisch politisieren, hier ist wiederum Initiative von „oben“ gefragt. Um aus der Bevölkerung Rückhalt für die Europäische Union zu erhalten, reichen weder formalpolitische Beziehungen noch wirtschaftliche Erwartungen. Vielmehr ist es nötig, gemeinsame europäische Erlebnisse zu reproduzieren, interkulturelle Beziehungen müssen der Anstoß zu einer europäischen Euphorie sein. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nennt diesen Prozess die Konstruktion einer europaweiten Öffentlichkeit und der damit verknüpften politischen Kultur. Wie kann diese Aufklärung im europäischen Sinne konkret erfolgen? Eine europäische Grundbildung muss der Ausgangspunkt eines fundierten Diskurses sein, sodass Plebiszite zur Verfassung wie in den Niederlanden oder in Frankreich nicht mehr maßgeblich von den Meinungen zu Themen wie dem Euro, von dem 95 % der EU-Bevölkerung glauben, er habe die Preise in die Höhe getrieben, was nachgewiesenermaßen nicht stimmt, beeinflusst werden, sondern vielmehr durch Kritik an den Inhalten der Verfassung ausgezeichnet sind. Ein Unterrichtsfach Europa würde auch ans Tageslicht bringen, dass die so genannten Nettozahler der EU, also die Länder, die mehr in die EU-Kasse einzahlen, als sie jährlich aus Brüssel erhalten, wie eben z.B. Deutschland und eben Frankreich und die Niederlande, finanziell nicht nur Nachteile erfahren, sondern vielmehr wie im Falle Deutschlands enorm von den Vorteilen des Binnenmarktes der EU profitieren. Wird die Verfassung trotz der Aufklärung der stereotypen Ansichten über die EU abgelehnt, so zeigt sich dennoch in dieser Hinsicht, dass eine wirkliche Verfassungsdebatte eines politisch aufgeklärten Europas stattgefunden hat. Sollte ein wirkliches Unterrichtsfach „Europa“ ein zu idealistisch gewähltes Ziel für eine Politisierung der europäischen Bevölkerung sein, so sollte doch zumindest auf eine verstärkte Beschäftigung mit Europa gesetzt werden. Auch Schüleraustausch-Programme sind ein Ansatz, weitere Möglichkeiten wie Lehreraustausch-Programme sind in Betracht zu ziehen. Strittig bleibt die Frage, ob eine Besinnung auf europäische Werte, die Suche nach einer europäischen Identität, anzustreben ist. Sicher sind beispielsweise die Menschenrechte Grundlagen für eine europäische Union, doch gerade in Anbetracht des möglichen Beitritts der Türkei erscheint der misslungene Versuch Polens und einiger anderer Länder, einen christlichen Gottesbezug in der EU-Verfassung zu verankern, separatistisch. Ohne Zweifel sind intensive kulturelle Interaktionen zwischen den europäischen Bürgern bzw. Staaten wünschenswert, jedoch darf dies nicht zu einer Ausgrenzung der „nicht-europäischen“ Völker, somit zu einer Festung Europa in jeglicher Hinsicht, führen.

Programme wie Arte oder 3sat zeigen, dass eine multikulturelle Kultur entstehen kann. Auch Parteizusammenschlüsse wie die im Mai 2004 gegründete „europäische Linkspartei“ lassen Hoffnung keimen., erst recht in dem Wissen, dass unter den 15 Parteien, die diesem Bündnis beitraten, 3 aus Ländern stammen, die nicht der EU angehören. Auch könnten Vorstellungen gesellschaftlicher Solidarität zum Beispiel in Form von Gewerkschaftszusammenschlüssen den Einigungsprozess „von unten“ stärken.

Es bleibt bei allen Lösungsansätzen für das bestehende Demokratiedefizit die Frage nach der grundlegenden Ausrichtung, dem Sinn einer europäischen Union, einer europäischen Verfassung, bestehen. Warum sollte ein EU-Bürger, welcher Nationalität er auch sei, sich für ein vereinigtes Europa aussprechen? Selbst wenn er um alle institutionellen Vorgänge auf europäischer Ebene und um die demokratische Legitimierung dieser durch die Verfassung weiß, was setzt sich die europäische Union als Ziel für sich und ihre Bürger? Kritiker äußerten die Annahme, nationale Regierungen könnten deutlich besser geeignet sein, den Ansprüchen ihrer Bürger entgegenzukommen als ein gesamteuropäischer Staatenbund. Es besteht der indirekte Kampf föderalistischer und souverän gesinnter Stimmen.